Newsletter "Füchslein"

 

 Seit der Eröffnung der KUMON-Lerncenter in Meerbusch und in Oberkassel erscheint von Zeit zu Zeit die Klassenzeitschrift "Füchslein". Ihr Inhalt besteht nicht nur in Mitteilungen aus dem Schulbetrieb, sondern es finden sich darin immer auch einige Gedanken und Eindrücke zu Themen aus den Bereichen Erziehung und Bildung, die ich aus meinem Lebensalltag heraus -- der Mitte zwischen Japan und Deutschland -- kommentiere. Hier eine kleine Auswahl aus den neuesten Klassenzeitungen.

 

Viel Spaß bei der Lektüre!

                                                                                                                      Ihre Mariko Fuchs

September 2016

 

Die Einübung

der

Demokratie

    (Übersetzung aus dem Japanischen)

 

 

Im Juli 2016 wurde für die Wahlen zum Oberhaus des japanischen Parlaments das Wahlalter herab-gesetzt. Zum ersten Mal konnten die 18- und 19-jährigen ihr Stimmrecht mit einbringen. Ob sie das allerdings taten, sei in Frage gestellt, die tatsäch-liche Wahlbeteiligung war extrem niedrig, sie lag bei nur 45,45%. Da jedoch bei der Gesamtbevölke-rung das Wahlinteresse auch nur bei 54,70% lag, kann man nicht nur den jungen Menschen ihr Des-interesse vorwerfen.

       Und unter den 18- und 19-jährigen sollen mehr als die Hälfte die Regierungspartei gewählt haben. Für jemanden wie mich, der die letzten Tage der Studentenrevolte miterlebt hat und von dieser epo-chalen Welle auch im weiteren Lebensverlauf mehr oder weniger beeinflusst blieb, war dieses Ergebnis geradezu ein Schock. Die jungen Menschen erhe-ben keine Einwände gegen die gegenwärtig beste-hende Gesellschaft. Wenn man der Berichterstat-tung Glauben schenken darf, so hat die junge Gene-ration keinerlei Kriterien für eine eigene Entschei-dung. Sie orientieren sich an dem Wahlverhalten der Eltern und geben somit ihre Stimme der glei-chen Partei. Gerade für mich, die ich ständig gegen meine Eltern rebelliert habe, ist dieses Verhalten vollkommen unverständlich. Wie kann man keine eigene Meinung haben und seine Stimme den Eltern überlassen!

       Wenn man die Wahlbeteiligung der 18- und der 19-jährigen untereinander noch genauer vergleicht, fällt ein Unterschied auf: Die 18-jährigen beteilig-ten sich zu 51,17%, die 19-jährigen nur zu 39,66%.  Die Erklärung des Innenministeriums dazu war, dass die 18-jährigen fast alle noch Oberschüler waren und an ihren Schulen die Gelegenheit hatten, politischen Unterricht zu erhalten, der sie zu den mündigen Bürgern der Zukunft heranbilden sollte. Die 19-jährigen dagegen waren bereits Studenten oder schon berufstätig. Das soll heißen: Nach der Bekanntgabe des neuen Wahlberechtigungsalters (18) wurde kurzfristig auch ein bildender Unterricht an den Schulen eingeführt, der zu diesem erfolg-reichen Ergebnis geführt haben soll. Wenn man nur die Zahlen betrachtet, kann man durchaus ein solches Fazit ziehen. Aber wenn nur die Hälfte aller Wahlberechtigten an der Wahl teilnimmt und von dieser Hälfte die meisten keinen eigenen Stand-punkt vertreten und stattdessen die gleiche Partei wie die Elterngeneration wählen, dann kann man nicht unbedingt von einem gelungenen Unterricht sprechen.

       In diesem Zusammenhang machte ich neulich eine interessante Erfahrung. In der Verwaltungs-zentrale von KUMON Deutschland fand in diesen Sommerferien ein Fortbildungsseminar statt, an dem auch ich teilnahm. Übrigens waren, außer  mir und noch zwei oder drei weiteren Ausländern, sämtliche Teilnehmer deutsche KUMON Schullei-terInnen. Unterschiedliche Meinungen kamen nur so herausgesprudelt, jeder streckte den Arm empor für eine Wortmeldung, die Zentrale wurde für den Inhalt ihrer Präsentation aufs schärfste kritisiert. Eine Schulleiterin zum Beispiel sagte wörtlich:

Um hier zu erscheinen, habe ich heute einen ganzen Ferientag geopfert. Aber was Sie hier gerade präsentiert haben, hat mit dem heutigen Hauptthema überhaupt nichts zu tun. Ich kann das nicht entschuldigen, und es macht mich überaus ärgerlich“. Ich glaube nicht, dass eine solche Bemerkung in einem japanischen KUMON-Büro jemals gemacht wurde.

       Autoritäten werden hier nicht gefürchtet. Der eigene Standpunkt wird klar und deutlich ausge-drückt. Alle Unklarheiten werden bis in die Tiefe hinterfragt. Wunderbar. Das ist die deutsche Kultur!

Es ist die Erziehung und Bildung, die solche „Alles- sagen-können-Menschen“ hervorbringt. Den Inhalt des Seminars vernachlässigend staunte ich nur über die Kritik, die da abgegeben worden war. In der Kaffeepause sprach ich dann mit einer türkischen Leiterin. Sie sagte: „Wenn man jetzt in der Türkei so frei seine Meinung äußert, muss man mit dem Todesurteil rechnen“. Stimmt. Seit dem Umsturz-versuch gegen die türkische Regierung möchte Erdogan die Todesstrafe wieder einführen lassen. Ich erwiderte: „In Japan wird es bald auch so ablaufen, aber vermutlich wird es noch schlimmer. Der Grund dafür ist, dass die meisten Menschen überhaupt nichts von den Veränderungen bemerken und sie auch solche Gedanken gar nicht aufkommen lassen“. Darüber hinaus unterhielten wir uns noch darüber, wie gut es doch sei, dass die freie Mei-nungsäußerung in Deutschland ein Fundament der Gesellschaft sei.

       Vor schon etwas längerer Zeit hörte ich einen Vortrag von der japanischen Journalistin Mako Oshidori, die fortwährend von der Fukushima Ka-tastrophe berichtet. In diesem Vortrag sagte sie, dass unsere alltägliche Handlungsweise selbst schon unser Wahlverhalten und unser politisches Verhalten ausdrückt. Genau das ist es, was die Deutschen tun, wenn sie im Alltag und in den gewöhnlichen Diskussionen die Dinge in Be-wegung setzen und fortführen, sicherlich nicht im-mer einfach und oft mit Anstrengungen verbunden, aber ich denke mehr und mehr, dass damit politi-sches Handeln ausgedrückt wird. Sowohl im Bundestag als auch im KUMON-Seminar bleibt diese Handlungskette ungebrochen. Politik ist in Deutschland vertraut und naheliegend. Das war es, was ich an diesem Seminartag klar und deutlich fühlte und dachte.

       Nun, von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, wie stellt sich Japan dar? Immer, wenn ich die Gelegenheit dazu habe, stelle ich meinen japanischen Mitbürgern die Worte meines Doktor-vaters Prof. Dr. Gerhard Michel, vor, der in einem seiner Seminare zu den Studenten folgendes sagte: „Ganz gleich, wie viel wir auch von der Theorie des Schwimmens verstehen, es wird uns nicht dazu befähigen, schwimmen zu können. Wir müssen unbedingt einmal ins Wasser gehen, es ausprobie-ren und üben. Genauso verhält es sich auch mit der Demokratie. Wenn wir von unseren Kindheitstagen an nicht selbst entscheiden und selbständig danach handeln können, werden wir auch keine demokra-tische Gesellschaft etablieren und verwirklichen können.

       Eigentlich eine ganz klare Sache, warum also tun wir uns so schwer damit, diese Tatsache zu bemerken? Wir haben die Gewaltenteilung von Administration, Legislative und Judikatur, das System des Parlaments, und die Bedeutung der Wahlen ist uns bekannt. Beispielsweise lernen wir auch etwas darüber, welche geschichtlichen Vor-gänge stattfanden, bis allgemeine Wahlen überhaupt durchgesetzt werden konnten. Aber mit all diesem Wissen alleine lässt sich keine Demokratie verwirk-lichen. Dem Unterricht für die Wahlvorbereitung der Oberschüler gehen die Grundschule und die Mittelschule voraus. Die eigene Meinung kundtun, Entscheidungen treffen, beim Aufeinanderprallen unterschiedlicher Ansichten miteinander reden und einen Konsens finden, diese Erfahrungen und auch das wiederholte Scheitern, das alles führt zu einem Lernen und Verstehen von der Bedeutung der Poli-tik und der Wichtigkeit des Wählens. Der Unter-richt in einem besonderen Rahmen für die erste Wahlberechtigung der Oberschüler erledigt sich dann von selbst. Ungeachtet des Schulfaches, ja mehr noch, durch alle Fächer hindurch sollte sich der rote Faden dieser Übung ziehen.

       Natürlich praktizieren wir das auch bei KUMON. Ich nenne es das „Lernen am Ausgang“.  Nachdem die Schüler im Unterrichtsraum ihre  Aufgaben beendet haben, kommen sie zu mir im Ausgangbereich. Dort befrage ich sie nach ihrem  Resultat und wie sie es selbst bewerten. Nachdem die Schüler sich erklärt haben, lasse ich sie auf der Basis des heutigen Ergebnisses ihre neuen Hausauf-gaben bestimmen. Falls ich anderer Meinung bin, sage ich es ihnen und wir versuchen dann, eine ge-meinsame Lösung zu finden. Alltägliche Handlung ist auch politische Handlung, meine Intention ist es, dass diese Kinder in ferner Zukunft einmal ihre Wählerstimme anwenden und gebrauchen werden.

       In letzter Zeit hatte ich die Möglichkeit, mit mehreren Studenten, die aus Japan kamen, über dieses Thema zu sprechen. In großer Einstimmig-keit bestätigten sie mir, dass sie es nicht wagen würden, ihre persönliche Meinung in den sozialen Netzwerken zum Ausdruck zu bringen, vielmehr würden sie sich der allgemeinen Stimmungslage anpassen. Eine Studentin erzählte mir, dass sie immer erst ihre Mutter konsultieren müsste, eigene Freiheiten hätte sie keine. Was für ein Gefühl des „Eingesperrt-seins“ muss das wohl sein, darin sein Leben zu verbringen. Was die Generations-zugehörigkeit und den Lebensstandort angeht, so völlig unterschiedlich von mir, so dachte ich im Stillen. Anderseits fragte ich mich aber auch, ob ich selbst genug Mut und Kraft haben würde, um die übergestülpte Schale zerbrechen zu können, falls ich in Japan leben würde und aus der gleichen Generation wäre. Darüber nachsinnend, woher Mut und Kraft wohl kommen, meldete sich eine Studentin und sprach folgende Worte: „Das Gespräch heute und hier hat eine befreiende Wirkung auf mich. Vermutlich werde ich als Folge davon nicht sofort mein gesamtes Leben verändern können, aber die Gelegenheit, Ihrem Vortrag zuhören zu können, ist für mich sehr inspirierend.“ So war das also. Schließlich sind es doch die in der Umgebung lebenden Erwachsenen, die durch die Gestalt ihrer Praxis von der jungen Generation wahrgenommen werden. Auch die fortwährende Beschreibung eines Ideals ist ein wichtiger und nicht zu vernachlässigender Punkt.

       Heute erinnere ich mich daran zurück, wie schwer es doch war, das Schwimmen zu erlernen, weil ich nämlich um ein vielfaches ungeschickter war als alle anderen. Sowohl im Pool als auch im Meer musste ich viel Wasser schlucken und viele Erwachsenen-Hände hielten mich fest, bevor ich einigermaßen alleine die Übungen beherrschte. Als Erinnerung bleibt mir eine Episode im Gedächtnis, die sich an der Küste der Izu Halbinsel zutrug. Der Vater meiner Freundin zeigte mir, wie man die Arme ausbreitend und auf dem Rücken liegend, frei und ohne Kraftaufwand, auf dem Meer schlafen und sich treiben lassen kann. Der Versuch alleine hatte etwas Bedrohliches für mich, aber da ich seine vorbildhafte Gestalt im Meer im Einklang mit den Wellen auf- und ab schweben sah, ahmte ich ihn nach, und siehe, es klappte vorzüglich. Nun, für die Einübung der Demokratie bei den Kindern sehe ich mich in die Pflicht genommen als ein Vorbild, das präsentiert und Hilfestellung leistet.

 

 

Juni 2016

 

Wir wollen es ausprobieren, ansonsten  können wir es nicht wissen

    (Übersetzung aus dem Japanischen)

 

Dieser Satz ist in der KUMON-Welt allgemein bekannt, die Worte stammen von dem Gründer der KUMON-Pädagogik, Toru KUMON, ‒ sie werden häufig zitiert. Hin und wieder möchte ich auch einmal etwas über KUMON schreiben. Vor kurzem habe ich eine Erfahrung gemacht, die den Wahr-heitsgehalt dieses Satzes nur bestätigen kann. Es war die Neueinrichtung einer eigenen Homepage für meine beiden KUMON-Schulen. Schon vor geraumer Zeit tauchte das Internet in unserer Welt auf und wird seitdem als ein Kommunikationsmittel ganz natürlich benutzt. Bei meiner Recherche fand ich heraus, dass die allgemeine Nutzung des Inter-net Anfang 2000 begann. In den darauf folgenden Jahren erfreute sich dieses  Kommunikationsmittel einer stetig wachsenden Beliebtheit. Obwohl ich schon einige Zeitepochen durchlebt habe, fällt mir jetzt die Erinnerung an internetlose Zeiten immer schwerer, so sehr wird unser Alltag bereits davon eingenommen und überschwemmt.

       Von Anfang an, seit das Netz immer populärer wurde, hielt ich es für notwendig, eine Homepage für meine Schulen zu erstellen. Zu jener Zeit hatte ich einen älteren Schüler in meiner Klasse, der mit der IT Technologie bestens vertraut war. Er machte mir das freundliche Angebot, eine Website mit dem entsprechenden Webdesign zu erstellen, ich hätte ihm eigentlich bloß den dazugehörigen Text zusen-den sollen. Aber tagaus tagein war ich mit vielen anderen Dingen zu sehr beschäftigt und abgelenkt, so dass ich danach die Sache überhaupt nicht mehr weiter verfolgte. Zu guter Letzt zog er nach Eng-land, wo er einen Studienplatz erhalten hatte, und unsere Verbindung brach vollständig ab. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, komme ich nicht umhin, seine vergeblichen Anstrengungen und mein eige-nes Verhalten aufrichtig zu bedauern. Was ich auch nicht wusste, war, dass es sehr teuer war, die Konzi-pierung einer Homepage in Auftrag zu geben und diese dann einrichten zu lassen.

       Wie ein bekanntes deutsches Sprichwort eben sagt: „Perlen vor die Säue“. An der Dringlichkeit dieser Aufgabe änderte sich allerdings nichts, da ich immer wieder darauf angesprochen wurde, und so behielt ich diese wichtige Hausaufgabe auch weiter-hin in meinem Kopf. Machen oder von jemandem machen lassen ‒ das waren zwar meine Gedanken, die ich aber immer wieder nur vor mir herschob. Ich kann das Gefühl mancher Kinder, die zu KUMON kommen, sehr gut nachvollziehen  .

       Zwischenzeitlich hörte ich davon, dass Soft-ware Programme entwickelt worden waren, welche die Gestaltung einer Website sehr einfach machten.

In meiner Non-Profit-Organisation gab es ein Mit-glied, das mit dieser Hilfe auf recht schnelle Art und Weise bereits unseren Auftritt im Internet ver-wirklicht hatte, und so beschloss ich, es ihm gleich-zutun. Genau zu diesem Zeitpunkt gab mir eine Person, der ich viel zu verdanken habe, den letzten notwendigen Schubs, und so entschloss ich mich zur Durchführung meiner Unternehmung in diesen Osterferien.

       Die einzig mir bekannte echte Information war allerdings nur, dass es im Netz eine Seite mit dem Namen „Jimdo“ gibt, mit deren Unterstützung man ziemlich einfach Homepages kreiert. Nur: Schon beim Aufrufen der Seite gab ich eine falsche Buch-stabenfolge ein und wurde prompt korrigiert. Natür-lich war das nicht eine meiner Lieblingsaufgaben (und schon gar nicht am ersten Ferientag), und so fand ich immer wieder neue Gründe und Arbeiten dafür, alles auf den nächsten Tag zu verlagern. Als alle vorgezogenen Nacharbeiten dann doch irgend-wann einmal erledigt waren, ließ es sich nicht län-ger aufschieben und meine Auseinandersetzung mit der Homepage begann. Ich öffnete die Jimdo-Seite und schloss unverzüglich einen Vertrag ab. Vieles von dem, was dort geschrieben stand, verstand ich überhaupt nicht, aber ich erinnerte mich daran, was mein NPO Mitarbeiter mir erklärt hatte, benutzte deren Schlüsselwörter und übertrug diese auf mei-nen Verwendungszweck. Der erste Schritt war ge-schafft. Als nächstes schaute ich mir mehrere Bei-spielseiten an und wählte die für mich am besten geeignete heraus. Nun konnte die Arbeit beginnen, dachte ich …… Was ich aber vor meinen Augen fand, das war eine völlig andere Sprache, so wie etwa die vom Mars, ‒ nichts von alledem hatte für mich eine klare Bedeutung. Das war`s dann wohl, dachte ich mir, ‒ für mich ganz und gar unmöglich. Mit dem Gefühl und dem Entschluss, die Person, der ich bereits so viel zu verdanken hatte, noch ein-mal um Hilfe zu bitten, ging ich an diesem Abend schlafen.

       Der nächste Tag kam. Ich hatte eigentlich schon so gut wie aufgegeben, aber einen letzten Versuch wollte ich noch wagen, und so öffnete ich zum wiederholten Male die Arbeitsseite. Ohne ein Verhältnis zu meinem eigenen Willen begann ich mit der Herstellung von Spalten, deren Verschie-bung und deren Eliminierung. Und je mehr ich mit der Maus herumspielte, sie bewegte und drehte, begriff ich plötzlich die Vorgehensweise. Das war das sogenannte „Aha“-Erlebnis. Ich glaubte in die-sem Moment, einen großen Berg überwunden zu haben. Von hier aus setzte ich meine Versuche mit der „Trial-and-Error-Methode“ fort. Das Posting ist dem bei Facebook sehr ähnlich. Das Hochladen von Bildern, die Anbringung von Links; jeder einzelne Arbeitsschritt führte zu mehr Wissen und Hand-habung der Technik, ein Gefühl der Lebendigkeit entstand in mir. Es war zwar nur der erste Schritt, aber ich war überzeugt davon, damit das Fundament für die Fortsetzung der Arbeit gelegt zu haben. Solch ein Gefühl macht einen Menschen in der Tat sehr glücklich, gestern hatte ich mich schon zum Aufgeben durchgerungen und glaubte, jemand an-deren damit beauftragen zu müssen.

       Der innere Antrieb war geweckt und ich ver-brachte jeden Tag mehrere Stunden vor dem Moni-tor. Die Weiterführung der Links erstellen, PDF- Dateien hochladen, die Cursorbewegungen in der Navigationsleiste verstehen, die Schriften in den in-neren Spalten auswählen und die Kontrollansicht nicht aus dem Blick verlieren: Ich bekam immer mehr Sicherheit. Einem Anfang mit null Wissen folgte nun das Vergnügen, und je mehr ich verstand, desto größer wurde auch die Experimentierfreudig-keit. Auch auf den Homepages anderer KUMON-Schulen suchte ich für mich nach Anregungen und weiteren Verbesserungen. Ein paar nützliche Tipps konnte ich zwar für mich ausfindig machen, fand aber keine Beispiele für japanische KUMON-Schu-len im Ausland, und die Beschreibungen waren eher nicht auf meine Schulsituationen zugeschnitten. Es ging alles in entgegengesetzte Richtung: Prüfungs-strategien für die Aufnahme an japanischen Univer-sitäten oder eben nur reine Werbung und Darstel-lungen des KUMON-Lern-Systems. Ich begann zu begreifen, dass ich die KUMON-Entwicklung im Ausland aus meiner Sichtweise und von meinem Standpunkt aus ganz alleine in mein Gedankengut fassen musste.

       Eigentlich fällt es mir nicht so schwer, mir In-halte von Präsentationen auszudenken, die richtigen Sätze dafür zu konstruieren und genügend Ideen für einen solchen Zweck zu entwickeln. Man könnte beispielsweise dies verwenden, aber nach dem Hochladen der Ansicht sehe ich, dass es nicht passt, und ich verwerfe alles wieder und so weiter und so weiter. Natürlich folgt alles der „Trial-and-Error-Methode“; was mich einen ganzen Tag Arbeit gekostet hat, das gefällt mir am nächsten Tag nicht mehr und wird von Anfang an erneut korrigiert, ‒ sehr oft passierte mir das. Nichtsdestotrotz mobili-sierte ich all meine Geschicklichkeit und mein Wis-sen aus der Vergangenheit und ließ es in die Gestal-tung dieser Website mit einfließen. Dabei entstehen neue und gleichgesinnte Verbindungen. Fehlende Kanäle werden gefüllt, und der Übergang zur näch-sten Stufe ist mühelos. Dieses sich fortsetzende neue Lernen vermittelt in der Tat ein ausgesprochen angenehmes und freudiges Gefühl.

       Wenn man einen Punkt erreicht, wo man nicht mehr weiter weiß und steckenbleibt, dann kehrt man zum Nullpunkt zurück und versucht es noch einmal. In solchen Fällen dachte ich im Stillen, dass, wenn Wissen und Technik bis hierhin errungen worden sind, dieses Problem auch überwunden wer-den kann, und ich suggerierte mir Geduld und Durchhaltevermögen ein. Ich lernte auch, dass es besser ist, die Probleme manchmal für einige Tage ruhen zu lassen. Ich wechselte die Stimmung, ließ etwas Zeit verstreichen, und auf wundersame Art erschloss sich mir dann eine Route der Problem-lösung. Mit jeder Bewältigung der Aufgaben-stellung ergab sich auch neues Wissen und vergrö-ßertes Selbstvertrauen, die Vielfalt der geschafften Schritte führte zu einem Hochgefühl.   

       Es war genauso, wie ich es in der Überschrift formuliert habe. „Wir wollen es ausprobieren, ansonsten können wir es nicht wissen.“  In der Tat! Um ehrlich zu sein, was ich erlebt habe, war die nacherlebte Erfahrung der Kinder, die zur KUMON-Schule kommen. Durch meine tatsächli-che Praxis habe ich ein positives Resultat erzielen können, über das Kopfverständnis hinaus mit dem ganzen Körper etwas zu erlernen. Das Gefühl, etwas erreicht zu haben, der Effekt der Selbstbestä-tigung, gerade das gibt uns die Motivation und den Eifer für weiteres Lernen.

       In diesem Zusammenhang möchte ich eine kleine Episode erwähnen, die mir neulich viel Freude bereitet hat. Es ist der Tag, an dem Nora zum ersten Mal die Wurzelrechnung auf den Auf-gaben in der Klasse stehen hat. Nora ist im 6. Schuljahr und sie soll Schulstoff aus der 9. Klassen-stufe bewältigen. Wenn die Schüler mit ihnen völlig unbekannten Aufgaben konfrontiert werden, legen wir normalerweise immer eine grüne Karte in ihre Mappe. Das ist ein Zeichen für meine Mitarbeiter im Klassenzimmer, heute besonders die Arbeits-weise der Schüler im Auge zu behalten und sie stetig zu kontrollieren. Als aber Nora diese Karte bemerkt, verweigert sie diese und sagt nur: „Diese Karte brauche ich nicht. Nach Möglichkeit möchte ich diese Rechenaufgaben alleine lösen.“ Sie orien-tierte sich an den Beispielaufgaben, und ihre Ergeb-nisse waren fast alle richtig. Mit dem Resultat, alles aus eigener Kraft geschafft zu haben, kam sie zu mir nach draußen ins Vorzimmer.

       Die Erfahrung aus eigener Hand und die Praxis mit der eigenen Hand, Versuche unternehmend und Irrtümer begehend zu lernen, eigenes, anwendbares Wissen und Geschick, das alles führt zu einem großen Vorrat an Erlerntem, das unsere Bandbreite vergrößert und das Lernen zur Freude macht. Durch das Erschaffen meiner Homepage habe auch ich in meinem Alter erneut das Lernen von Null an noch einmal erfahren dürfen. Durchaus ein beflügelndes Erlebnis, ‒ aber nach Möglichkeit möchte ich den Kindern in jungen Jahren solche Erfahrungen zu-kommen lassen. Sie können das Leben in ganz an-dere Bahnen lenken. Was ich zum Schluss dann immer denke, ist, dass die „Freude am Lernen“ so vielen Kindern wie möglich weitergereicht werden sollte. Und wenn diese Kinder eines Tages einmal in das Erwachsenenalter kommen, können sie diese Lernfreude an andere junge Menschen oder Kinder weiterreichen, die größtenteils davon ausgeschlos-sen sind.

       Vor einiger Zeit erschien der kleine Felix im Klassenzimmer und begann mit einem Streik: „Ich will heute kein KUMON machen.“ Ich erklärte ihm, dass es auf der Welt nicht überall Kinder gibt, die eine Schule oder gar KUMON besuchen können. Viele von ihnen müssten schon vom Kindesalter an schwere Arbeit verrichten. Zu meiner großen Über-raschung änderte er sein Verhalten daraufhin plötz-lich und erledigte komplett seine Aufgaben. „Wenn ich groß geworden bin, werde ich ein Fußballspieler, der viel Geld verdient. Und dann werde ich den Kindern, die nicht lernen können, helfen“. Das ist auch eine sehr gute Idee, finde ich.

       Zurück zur Homepage: Eine letzte große Hürde war noch zu nehmen. Um das KUMON-Logo in die Seite einzubetten, musste ich eine Formel eingeben, die in der Spalte für Farben normales Blau in KUMON-Blau umwandelt. Was für eine schwierige Prozedur! Eigentlich gelang mir dieses Unterfangen bloß durch viel Glück und Zufall. Was zum Schluss noch blieb, das war der Erwerb der Domain. Es folgte zum wiederholten Male das Auftauchen der mir unbekannten Marssprache, aber ohne mich diesmal abschrecken zu lassen, vollzog ich die Re-gistrierung im Internet. Es gibt zwar noch einige nicht fertiggestellte Baustellen,  aber erst einmal ist der Zugang für die Öffentlichkeit geschaffen.

       Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie einmal hineinschauen und die Homepage auch in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis vorstellen.

 

 

http://www.kumon-oberkassel-meerbusch.de/

 

 

März 2016

 

Fukushima und die Zeit danach

       (Übersetzung aus dem Japanischen)             

 

 

Fünf Jahre sind seit dem schweren Erdbeben vergangen. Wie können wir das Thema "Fukushima" in den Bildungseinrichtungen wahrheitsgetreu angehen und vermitteln? 

Fünf Jahre sind seit dem schweren Erdbeben vergangen. An dem besagten Morgen nahm ich zufälligerweise an der Beerdigung eines ganz jung verstorbenen Freundes teil. Frühlingsanfang, ein Baumbegräbnis mitten im Wald, Schmerz und Trauer der Familie über das erloschene junge Leben -- das allein war schon genug Leid für mich. Auf dem Rückweg vom Friedwald zur KUMON-Schule hörte ich dann im Autoradio die ungeheuerlichen Nachrichten aus Japan über das Erdbeben. Was für ein leidvoller Tag!

       Obwohl ich im sicheren Deutschland lebe, waren die darauf folgenden Tage genauso dunkel für mich wie für meine Landsleute dort, und ich empfand in dieser Zeit meine Existenz als bleiern schwer. Inmitten von Erdbeben und Tsunami passierte der verheerende nukleare Supergau. Einmal geschehen, lassen sich die schädlichen und vernichtenden Auswirkungen sowohl auf das ökologische System des jetzigen Japan als auch auf die gesamte Erde nicht wieder rückgängig machen. Klar und deutlich ist auch zu erkennen, dass diese unwiderrufliche Situation ganz neue Diskriminierungen mit sich bringt, unter denen Menschen zu leiden haben und die Menschen zu Opfern machen, so dass man nur mit Wut und Empörung darüber berichten kann. Furcht und Erbitterung sind bei mir bis auf den heutigen Tag unverändert stark. Im Laufe der Zeit wird in Japan das Problem „Fukushima“ mit voller Absicht oder auch mechanisch und gedankenlos, je nachdem, unter den Teppich gekehrt und vor der Bevölkerung geheim gehalten, während ich mir, glaube ich, gerade weil ich in Deutschland lebe, ein lebhaftes Krisenbewusstsein  bewahre.

       Vor einiger Zeit erzählte mir ein Freund, dass in Hamburg eine Oper aufgeführt werde, die „Fukushima“ zum Thema hätte. Nach einer kurzen Internet-Recherche entschloss ich mich zum Besuch der Oper und fuhr hin. Ich hatte schon viel zum Thema Fukushima gelesen und ein gewisses Problembewusstsein. In letzter Zeit habe ich ernsthaft darüber nachgedacht, auf welche Art und Weise die Kunst mit der Fukushima-Katastrophe umgehen sollte. Als ich einmal den japanischen  Musiker Ryuichi Sakamoto bei einem Interview traf, sagte er, dass es barbarisch sei, nach Fukushima über Fukushima zu schweigen. Das war natürlich eine Anspielung auf den berühmten Satz des deutschen Philosophen Adorno: "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch."

       Wenn man das Schweigen der Künstler nach Fukushima nicht gutheißt, welche Kunstwerke sollten dann geschaffen werden und welche lieber nicht? Neulich hatte ich Gelegenheit, bei der Planung einer Foto-Ausstellung mitzuwirken, die Fukushima zum Thema hatte. Die Bilder waren vorher  im Internet zu sehen. Als ich sie betrachtete, hatte ich das unangenehme Gefühl, dass irgendetwas damit nicht stimmte. Zwar hätte diese Ausstellung ohne das Reaktorunglück nie stattgefunden, und die Bilder sollten ohnehin als Kritik dienen. Es wurde aber auch sichtbar, dass Fukushima für seinen künstlerischen Ehrgeiz ausgenutzt wurde. Die Schönheit der Reaktorruinen von Fukushima darzustellen ist ziemlich absurd und kann eigentlich nur unter dem Aspekt künstlerischen Geltungsbewusstseins gesehen werden. Muss man sich damit wirklich abfinden, und darf man so etwas erlauben?

       Nun zu der Oper „Stilles Meer“. Das Libretto stammt von dem Japaner Oriza Hirata und wurde ins Deutsche übersetzt. Toshio Hosokawa komponierte die Musik dazu, und Hirata übernahm die Inszenierung. Die Uraufführung fand in der Staatsoper Hamburg unter dem Dirigenten Kent Nagano statt. Vorweg möchte ich den Inhalt der Oper kurz wiedergeben: Claudia, eine Deutsche, lebt mit ihrem japanischen Mann und einem Kind in Fukushima, wo sie als Ballettlehrerin tätig ist. Am 11. März 2011 verliert sie im Tsunami ihre geliebte Familie aus den Augen. Da es wenig später zu der Atomkatastrophe kommt, kann sie die Suche nach ihren Lieben nicht fortsetzen. Ihre Schwägerin Haruko empfiehlt ihr daraufhin, nach Deutschland zurückzukehren, und auch ihr Ex-Freund Stefan  möchte sie zur Rückkehr in ihre alte Heimat bewegen. Sie bleibt jedoch im Katastrophengebiet.

       Mir ist, um die Wahrheit zu sagen, zeitgenössische atonale Musik ein Graus. Hinzu kommt, dass die Akte einer Oper oft sehr lang sind; darum war ich mir nicht ganz sicher, ob ich bis zum Schluss durchhalten würde. Aus der Musik sprach jedoch ein leidenschaftlicher Appell. Der eher beiläufige, geradezu unspektakuläre Beginn, währenddessen viele Operngäste noch nach ihren Plätzen suchten, das Gebet am Ende, das als Satire inszenierte Auftreten von Robotern, die Darstellung des Meeres und der unheimlich wirkenden Brennstäbe, dies alles erzeugte eine überaus beeindruckende Atmosphäre. Insbesondere in Claudias Klage und Trauer waren deutliche Anklänge an das  japanischen No-Spiel „Sumidagawa“ (14. Jh.) zu erkennen, wo eine Mutter den Tod ihres Kindes beklagt, und eine ähnliche Steigerung in der dramatischen Entwicklung, die über Raum und Zeit hinausgeht und Ergriffenheit zurücklässt. Trotz meines kritischen Standpunkts sehe ich in diesem Opernwerk durchaus etwas Positives.

       Nach der Aufführung gab es eine Podiumsdiskussion über die zentrale Frage: „Was hat sich nach Fukushima verändert?“ Oriza Hirata, der das Libretto geschrieben und die Oper inszeniert hat, stellte sich der Runde. Ich hatte, um ehrlich zu sein, gewisse Bedenken, da meines Erachtens das, was ich im Programmheftchen von ihm gelesen hatte, in Deutschland zu Missverständnissen führen musste. Ich zitiere: "Die in Fukushima durch die Verstrahlung entstandenen Schäden werden mit der Zeit von selbst abklingen oder durch Dekontaminierung größtenteils behoben werden. Trotzdem bleiben landwirtschaftliche Produkte aufgrund unerklärlicher Fehleinschätzung weiter unverkäuflich. Kleinkinder leiden zwar häufiger unter Schilddrüsenkrebs, aber die eigentliche Ursache dafür ist noch ungeklärt." So etwas klingt in meinen Ohren wie eine Proklamation der Sicherheit Fukushimas. Hirata vertrat jedoch den folgenden Standpunkt: „ Ich bin auf jeden Fall ein Atomkraftgegner. Das einzige, was ich tun kann, ist, Werke zu schaffen, die der Situation der Menschen in Fukushima möglichst nahe kommen."

       Ich selbst halte diesen Standpunkt allerdings für nicht ganz unproblematisch. Zu behaupten, dass im Grunde alles ziemlich sicher ist, und so eine baldige Rückkehr der Katastrophenopfer in ihre Heimat zu befürworten, birgt auch die Gefahr in sich, damit unabsichtlich der staatlichen Propaganda Vorschub zu leisten und sich vor den Karren der Regierung spannen zu lassen. Unter den Diskussionsteilnehmern war auch eine Professorin für Japanologie der Universität Hamburg, die im gegebenen Zeitrahmen ausführlich beschrieb, wie sich die Zustände in Japan in den letzten fünf Jahren verschlechtert hätten. Das Land tendiere mehr und mehr nach rechts, die Regierung bringe mit viel Geschicklichkeit ein umstrittenes Gesetz nach dem andern durchs Parlament, und die Politik nähme stärker denn je nationalistische Züge an. Insbesondere seien große Teile der Massenmedien inzwischen staatlich kontrolliert. Der für die deutsche Bevölkerung kaum verständliche Wiederaufnahmebetrieb der japanischen Kernkraftwerke müsse in diesem Zusammenhang gesehen und verstanden werden.

       Ich war über diese ungeschminkten Ausführungen sehr erfreut, handelt es sich doch meistens bei solchen Podiumsdiskussionen um schönes Gerede mit asiatischem Flair, wie es Japan-Fans von sich zu geben pflegen, und das im Allgemeinen auf niedrigem Niveau. Für die meisten Zuhörer im Saal war das von Japan gezeichnete Schreckensbild völlig neu, und die Atmosphäre veränderte sich schlagartig.

       Nach diesem alarmierenden Auftakt durch die Professorin begann die Fragestunde. Darauf hatte ich sehnsüchtig gewartet, und ich stellte Oriza Hirata die Frage: „Wenn die Medien derart stark manipuliert werden, wie schützen Sie sich dann davor, dass Ihr Werk für Regierungszwecke vereinnahmt wird und Sie als Helfershelfer dastehen?" Er antwortete: „Ein Künstler muss immer damit rechnen, dass die Politik seine Kunst für Propagandazwecke missbraucht. Das gilt auch für mich. Ein Werk gegen Atomkraft zu schaffen ist relativ einfach, aber seine Botschaft würde nur eine geringe Anzahl von Menschen erreichen. Ich halte es für wichtig, möglichst viele Menschen zum Umdenken zu bewegen. Meine Kunst soll zum Nachdenken anregen. Sicherlich ist es ein Problem, wenn sie zu Propagandazwecken ausgenutzt wird, aber umgekehrt kann man vielleicht auch sagen, dass Werke, die nicht propagandatauglich sind, vermutlich auch langweilig sind“.

       Ich hielt diese Antwort für grenzwertig. Angesichts dessen, was gegenwärtig in der japanischen Politik und Gesellschaft an Macht und Kontrolle ausgeübt wird, ist es zweifelhaft, ob solche Denkanstöße tatsächlich in der Weise aufgenommen werden, wie es sich der Künstler gedacht hat. Gerade die Ansicht von Oriza Hirata, dass propagandauntaugliche künstlerische Werke möglicherweise auch langweilig sind, ist ein gefährlicher Gedanke. Letztendlich hat jeder Künstler das Verlangen, von möglichst vielen Menschen anerkannt zu werden. Wenn ich an das Leitbild der Kunst in der Nazizeit denke, finde ich als in Deutschland lebende Japanerin die Aussagen der japanischen Künstler ein wenig naiv.

       Vielleicht ist die Zeitspanne von fünf Jahren noch zu kurz, um ernsthaft in eine Auseinandersetzung mit Fukushima einzutreten. Das gilt nicht nur für Standpunkte in der Kunst. Besonders wir, die wir uns mit Erziehung und Bildung beschäftigen, müssen darüber nachsinnen, wie wir das Thema "Fukushima" in den Bildungseinrichtungen wahrheitsgetreu angehen und vermitteln können. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne Yūko Tanaka zitieren, eine Historikerin, deren Fachgebiet die Edo-Zeit (1603-1867) ist und die ich als Gast bei uns kennenlernen durfte. Mit ihren Worten, die einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen haben, möchte ich diesen Artikel beenden.

 

"Ich werde des Öfteren nach der Ursache der gegenwärtigen Probleme gefragt. Als Ursache wird gern die Edo-Zeit genannt. Letzten Endes werden damit die Gegenwartsprobleme der Edo-Zeit angelastet. Aber so einfach ist der Kausalzusammenhang keineswegs. Auch werde ich häufig gefragt, wie ich über die Zukunft denke. Das zu beantworten ist aber nicht meine Aufgabe. Meine Bestrebungen liegen darin, die jetzige Situation in ihren komplexen Perspektiven zu erfassen. Ich beobachte eingehend die Querschnitte der mannigfaltigen Gesellschaft und beim Rekonstruieren der Schnitte wird sichtbar, welche Handlungen durchgeführt werden müssen.

August 2016

             Ron

(Übersetzung aus dem Japanischen)

 

Ron war mein erster Hund, der mich jahrelang begleitet hat.

Ron ist tot. Es war an einem heißen Samstag im Juli, kurz bevor die Sommerferien bei KUMON begannen. Ron war unser wunderbarer Haushund. Anderen Leuten und Besuchern stellte ich ihn aus Bescheidenheit zwar immer als verspielt und ohne großen Nutzen vor, aber in Wahrheit konnte er sowohl auf deutsche als auch auf japanische Kommandos hören, war also ein bilingualer Hund. Er verstand es auch sehr gut, die Situationen danach abzuschätzen, ob es angebracht schien, jemanden freudig zu begrüßen oder lieber im Hintergrund zu bleiben. Sein Verhalten war immer an die jeweilige Szene angepasst -- ein äußerst intelligentes Tier. Vom Charakter her war er friedliebend; manchmal rannte er im Garten den Mäusen und Kaninchen hinterher, gefangen aber hat er nie welche, oder besser gesagt: Er konnte es gar nicht. Vor Blitz und Donner hatte er mächtigen Respekt, und wenn draußen ein Unwetter begann, verzog er sich eiligst unter meinen Schreibtisch.

       Wie ich in vorherigen Klassenzeitschriften schon öfters erwähnte, bewohnten wir früher unser Haus als Familie, und außer meinen zwei Söhnen war auch ab und zu ein Hund anwesend. Die Versorgung und Pflege der Hunde war allerdings nie meine Aufgabe, ich streichelte sie höchstens hin und wieder mal, und entsprechend lose war auch mein Verhältnis zu ihnen. Dann verließ unser ältester Sohn das Haus, es folgte sein jüngerer Bruder, und zum Schluss verlegte mein Mann seinen Wohnsitz nach Japan. Zurück blieben ich und ein Dobermann. Die Eingewöhnung in ein Leben allein, ohne Familie, war schon schwer genug, hinzu kam aber jetzt noch ein dominanter Hund, der mir keinerlei Anerkennung zollte. Anstatt sich erziehen zu lassen, übernahm er die "Rudelführung", ein verzweifelter und manchmal auch gefährlicher Kampf. Am Ende gab ich auf und verschenkte den Dobermann an einen geeigneteren Hundehalter. Der Nachfolgehund, der dann ins Haus einzog, war Ron.

       Ron war der erste Hund in meinem Leben, den ich in Eigenverantwortung vom Welpenalter bis zu seinem Ende allein aufzog, mit all den damit verbundenen Verpflichtungen, die eine Tierhaltung nun mal mit sich bringt. Aus Rons Sicht war es vermutlich umgekehrt. Das deutsche Wort "begleiten“ gefällt mir sehr gut, ich benutze es gerne. Ron hat mich von Anbeginn an in meinem neuen,  ungewohnten Leben begleitet.

       Ron war ein Rüde der Rasse „Berner Sennenhund“.  Wenn man auf die Ranking-Liste der meistgehaltenen Hunde in Deutschland schaut, so steht an erster Stelle der Deutsche Schäferhund und an 10. Stelle der Berner Sennenhund. Man kann ihn deshalb des Öfteren sehen. Der Grund meiner Entscheidung für diese Rasse ist leicht erklärt: Im Gegensatz zum Dobermann sind diese Hunde sehr geeignet für unerfahrene Hundehalter, sie sind leicht erziehbar und vom Temperament her treu, intelligent und anhänglich, alles Eigenschaften, die sie zum idealen Familienhund machen.

       Aber ganz so einfach war es dann doch nicht. Im Internet steht zwar lapidar, dass die Hunde nach einer Spielphase zur Ruhe kommen, aber immerhin vergeht dabei ein Jahr. Und in dieser Zeit musste ich ihn des Öfteren irgendwo oder bei fremden Leuten abholen. Unser Grundstück ist komplett eingezäunt, aber später musste ich erkennen, dass auch Hunde sich unter dem Zaun durch einen Tunnel graben und so die Flucht ergreifen können. Diese Fähigkeit ist also nicht nur auf die Insassen südamerikanischer Gefängnisse beschränkt! Um mich nicht jedes Mal ziel- und orientierungslos auf die Suche begeben zu müssen, hängte ich als Gegenmaßnahme einen Zettel mit meiner Telefonnummer und einer kleinen Dankesnotiz an sein Halsband, so dass ich nur auf entsprechende Anrufe warten musste, eine große Erleichterung für mich.

       Ron liebte Menschen, und zwar ohne Ausnahme. Womöglich hatte das etwas mit der Lage unseres Hauses zu tun. Das Anwesen grenzt an Wald und Felder, und in unmittelbarer Nähe gibt es keine Nachbarn. Außer zu mir hatte er nur sehr wenig Kontakt mit anderen Menschen. Und wenn dann mal jemand kam, war seine Freude umso größer: Er lief selbst dem Postboten entgegen  und wedelte mit dem Schwanz! Als Wachhund war er im Grunde vollkommen unbrauchbar. Wenn man ihn allerdings im Haus bellen hörte -- und das tat er bei ungewohnten Geräuschen --, so war man doch recht beeindruckt von der kräftigen, tiefen Stimme, die nur ein großer Hund haben kann. Als Abschreckung für potenzielle Einbrecher erfüllte er seine Aufgabe so lange, wie man die Haustür verschlossen hielt. Sobald man ihn jedoch nach draußen entließ, löste sich seine abschreckende Wirkung in Luft auf, und es offenbarte sich seine ganze Gutmütigkeit und Tollpatschigkeit.

       Im Mai dieses Jahres veränderte sich sein Fressverhalten nach und nach. Normalerweise war sein Fressnapf innerhalb von 2 oder 3 Minuten leer gefuttert, aber es dauerte immer länger, oder er verweigerte komplett die Nahrungsaufnahme. Zu Anfang schob ich dies auf sein Alter. Berner Sennenhunde haben trotz aller guten Eigenschaften den Nachteil, dass sie im Vergleich zu anderen Hunderassen eine relativ kurze Lebenserwartung haben. Wie man im Internet nachlesen kann, liegt diese zwischen 6 und 8 Jahren. Ron war bereits achteinhalb Jahre alt! Ich erinnerte mich an Tiergeschichten, insbesondere an solche von Elefanten, die, wenn sie ihren Tod nahen spüren, das Fressen einstellen und ihren Sterbeplatz aufsuchen. Ich hatte die leise Befürchtung, die Zeit für Ron sei jetzt gekommen. Von anderen Haltern der gleichen Rasse hörte ich aber auch, dass diese Hunde bei stressfreiem Leben durchaus bis 12 Jahre alt werden können. Voller Hoffnung, in die sich Skepsis mischte, betete ich insgeheim, dass Ron mich noch möglichst lange begleiten möge.

       An den Wochenenden gehen viele Leute mit ihren Hunden im Wald spazieren. Wenn Ron mit seinem guten Geruchsinn läufige Hündinnen witterte, die paarungsbereit waren, und in Gejaule ausbrach, sah ich darin den Grund für seine Appetitlosigkeit. Der Tierarzt, den ich konsultierte, schloss sich meiner Vermutung an, denn eine vorsichtshalber bei Ron durchgeführte Blutkontrolle erbrachte keinen Befund. Es wurden keine Auffälligkeiten festgestellt. Ron fraß jedoch kaum noch, ganz egal, welches Futter ich bereitstellte. Er wurde zusehends schwächer und dünner. Eine Ultraschalluntersuchung beim Tierarzt ergab, dass er unter einem Hormonüberschuss litt, der durch eine Kastration behoben werden sollte. Ich war nicht sonderlich überzeugt von dieser Diagnose, aber da Ron nicht mehr fraß und ich keine andere Wahl hatte, gab ich meine Einwilligung zu der Operation. Im Nachhinein denke ich, dass ich ihm diese überflüssige Behandlung hätte ersparen sollen. Ich als seine engste Bezugsperson hätte es eigentlich besser wissen müssen. Diese meine Unachtsamkeit bereue ich bis heute zutiefst.

       Nach der Operation stellte sich keine nennenswerte Besserung ein, und als Ron eines Morgens am Futternapf  plötzlich taumelte, umfiel und von Krämpfen geschüttelt liegenblieb, sah ich voller Besorgnis sein Ende kommen. Ich beruhigte ihn mit leiser Stimme. Da er noch lebte, benachrichtigte ich ein älteres Ehepaar in der Nachbarschaft, zu dem ich volles Vertrauen hatte, und bat um Hilfe. Sie hatten Ron jahrelang beaufsichtigt und gepflegt, wenn ich verreist oder beruflich außer Haus war. Gemeinsam brachten wir den bewegungslos in der heißen Sonne liegenden Ron zum Nottierarzt. Das Röntgenbild brachte dann den wahren Grund für sein Kranksein ans Licht: einen Tumor in der Lunge. Die Notärztin empfahl mir die sofortige Einschläferung, da keine Heilung möglich sei und alles andere nur sein Leiden verlängern würde. Der bisher für Ron zuständige Tierarzt hatte eine Fehldiagnose abgegeben. Die Einwilligung zur Todesspritze fiel mir sehr, sehr schwer, aber da es keine andere Option mehr gab, ließ ich Ron in meinen Armen sterben. Meine Tränen fließen jetzt, während ich darüber schreibe, immer noch.

        Als Ron starb, entschied ich aber auch, ihm die nächste Klassenzeitschrift zu widmen. Ich bin fast geneigt zu sagen, dass er so klug war, seinen Todeszeitpunkt so festzulegen, dass mir bis zum Unterrichtsanfang am Montagmittag noch ein Wochenende zur Trauerbewältigung zur Verfügung stand.

       In der Hafenstadt Sasebo in der Präfektur Nagasaki ereignete sich einst eine Tragödie: Eine Schülerin der Mittelschule brachte eine Mitschülerin um. Der Vater des Opfers, Journalist einer renommierten Zeitung,  beschrieb seinen Schmerz als eine herandrängende Traurigkeit, die wie eine Angriffswand von Rugby-Spielern auf einen zukommt. Damals fand ich, dass diese Formulierung genau ins Schwarze trifft. Es gibt Zeiten, in denen sich die Menschen dieser Tatsache bewusst werden. Man ist nicht einfach nur traurig, sondern wird von einer geradezu erdrückenden Gewalt niedergerungen und ist wie gelähmt. Ich denke, dass mein Gefühl des Verlusts sehr viel stärker war als beim Tod meiner Eltern. Der Grund dafür, so glaube ich, liegt in meinem langjährigen Zusammenleben mit Ron.

       Rons Tod teilte ich der Familie und einem  engen Freundeskreis mit. Jeder sprach mir auf seine Art und Weise Trost zu. Lange Zeit saß ich nur vor dem PC und ließ meinen Tränen freien Lauf. Die tröstenden Worte, die mir die Menschen zukommen ließen, waren sehr unterschiedlich, aber ich bin für alle dankbar. In diesen Trostworten spiegelte sich das Verhältnis zwischen mir und den Betreffenden wider. Es war für mich ein Segen zu erfahren, dass es viele Menschen gibt, die mich unterstützen und mir hilfreich zur Seite stehen, wenn ich am Boden bin. Durch Rons Tod belebten sich die Beziehungen zu einzelnen Menschen wieder neu. Auch dadurch hat Ron mein Leben aufs Höchste bereichert.

       Verloren und dennoch nicht verloren, so setzt sich diese kleine Begebenheit im Endlosen fort.  In der Welt vieler Ungerechtigkeiten erhebt sich eine Stimme, vollzieht sich eine Handlung. Ich werde nicht sofort große Veränderungen bewirken können, aber durch fortgesetzte kleine Taten wird vielleicht Stück für Stück irgendwann einmal ein Wandel herbeigeführt. In dieser Zuversicht leben wir unseren Alltag. Dass unser Dasein am jeweiligen Ort Sinn und Bedeutung hat, darum kreisten meine Gedanken in diesem Sommer.

 

        Sicherlich möchten Sie jetzt alle wissen, was Ron eigentlich für ein Hund war. Ich füge deshalb dieses Bild bei.